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Asthma Choir / Spent My Life In Sugar Town – Digital-Review

Asthma Choir / Spent My Life In Sugar Town

Asthma Choir ist das neueste Projekt des stets sehr kreativen Musikers Torsten Lang, bei RockTimes bereits mit Excessive Visage präsent. Das Debüt "Spent My Life In Sugar Town" wurde gemeinsam eingespielt mit seinem Buddy Rafael Espinoza und jeweils abwechselnden Drummern aus Übersee. Eine überwiegend im Alternative Rock beheimatete Gesamtkomposition mit Steps zwischen Progressive Rock und Mathrock verspricht eine Menge Spannung – und sie hält diese auch.

Fast fuzzig getränkt eröffnet eine schroffe Gitarre leicht Unheil geschwängert aber durchaus einnehmend, sie bekleidet einen progressiven Rhythmusaufbau, der abrupt in eine Passage schräger Vocals über einem Bass geprägten Hintergrund und vorsätzlich holpernden rhythmischen Extravaganzen übergeht. Schon hier entwickelt sich aus eher experimentellen, ruhigen Sounds bei aller Avantgarde eine aufkommende, seltsame Vertrautheit. Je tiefer man eintaucht in diese Musik und je häufiger man sich ihr aussetzt, umso mehr entwickeln sich ihre ausgefallenen Klangstrukturen wie gute alte Freunde im Kleinhirn – man findet sich mehr und mehr zurecht. Auf den ersten Blick oder besser beim ersten Reinhören hätte man diese Behauptung noch nicht aufstellen wollen.

"Drive In Together, Rinse All Over" hat ausgeprägteres Prog-Potential und die starke Gitarre über den rhythmisch kunstvollen Verrenkungen erinnert mich erstmals hier und da an die Arbeit von Robert Fripp, wenngleich mit einem zusätzlichen, leicht verwegenen Duktus. Die Gesänge, eigentlich immer noch recht ungewöhnlich, verbinden sich zu einer eigentümlichen Harmonie, während im Hintergrund wohl vor allem Rafael Espinoza, der Schweizer-Bolivianer, mit Latino-Rhythmen ein Stück seiner Wurzeln einbringt. Hans Otto am Schlag überzeugt dabei sehr einfühlsam. Colour Haze haben in "She Said" ähnliche Aspekte eingebracht, Manni Mehrwalds Percussion dazu ist absolute Referenz. Cool, dass man zum Ende einen wunderschönen, düsteren Soundscape entwirft, der allein schon für Gänsehaut sorgen kann. Ich bin ehrlich gesagt jetzt schon mächtig beeindruckt, wie man alternativen Prog, der auf den ersten Blick ausgesprochen unzugänglich zu werden schien, derart unter die Haut bringen kann. Sehr geil!
Zu "Time Takes The Time Time Takes" – was für eine schöne Alliteration – kommt mir bei den ersten Vocals eine Szene aus dem Film "Wolfen" in den Sinn, wenn Albert Finney mit seiner Filmpartnerin nach einer beängstigenden Szene in einer verfallenen Kirche in eine abgeranzte Bar tritt und am Piano kein Geringerer als Tom Waits sich über die Tasten quält und das herrlich verzweifelte "Jitterbug Boy" intoniert. Auf den späteren Bildträgern wird diese Szene übrigens nicht mehr gezeigt, die Rechte waren da wohl nicht so ganz klar. Der Gesang in dieser Nummer hat aber tatsächlich etwas von Herrn Waits.

Da mir lediglich die digitale Version des Albums vorliegt und selbst die Bandcamp-Seite die Lyrics nicht wiedergibt, gebe ich zu, das ich mich mit den Texten nicht näher befasst habe, auch wenn die dem Statement der Band nach durchaus interessant zu betrachten gewesen wären. Vielleicht hätte mir das beim Verständnis des leicht verstörenden Covers mit dem Stiletto über der stilisierten Rose geholfen. Dem eigenen Vernehmen nach greifen die Texte »den Tumult, die Spaltung, Extremisierung und Verwirrungen unserer Zeit und Gesellschaft auf und den persönlichen Diskurs, mit dem man diesen gegenübersteht«, ein Thema, mit dem wir uns alle mehr oder weniger intensiv in diesen Zeiten befassen dürften. Mit diesem Kontext im Hintergrund erscheint mir die Klangwelt dieses Album noch bedeutender, trifft sie mich noch tiefer.

Bin ich eigentlich der Einzige, dem beim Intro zu "Knife Teaser" und nicht nur dort die alte Wave-Band Gang Of Four in den Sinn kommt? Gilt nur für einzelne Phrasierungen, die Musik war insgesamt eine andere. Tatsächlich kann man hier, wenn man denn will, viel mehr Parallelen zu dem legendären "The Knife" von Genesis herleiten, was sich sowohl im grundsätzlichen Aufbau, dem Tastenspiel als auch sehr schön in den Flötentönen im Hintergrund darstellen ließe – auch wenn die hier vom Synthesizer stammen. Ich kann aber verstehen, wenn man mir diesen Verweis übel nimmt, weil er vermutlich einer romantischen Spinnerei meinerseits entspringt und sich die wenigen Parallelen ja auch nur in Fragmenten widerspiegeln.

Weniger unsicher bin ich mir bei der Einordnung von "Tragic Air", wenn ich diesen Song als Anklage gegen den Krieg verstehe. Nirgendwo sind die Soundscapes so naturalistisch und eindeutig, auch wenn der Krieg der Zukunft eher andere, sehr viel stillere Geräuschkulissen verbreiten wird. Eindrücklich bedrohlich und beängstigend ist diese klangliche Kulisse allemal.

"Spent My Life In Sugar Town" ist ein sehr spannendes Album geworden. Die mitunter wirklich fast arithmetisch erscheinenden Rhythmusgebilde des Mathrocks bilden einen Korpus, eine gradlinige, dreidimensionale Hülle, in der sich gerade die Gitarre kontrapunktierend und irgendwie gegen die vorgegebene Form begehrend sehr organisch bewegt. Sie kontrastiert und kontert die strikten Rhythmen. Vermutlich ist es das, was mir ab und an Herrn Fripp ins Gedächtnis ruft. Die zurückhaltenden Synth-Sounds helfen dabei, den leicht dystopischen Tenor der Grundmetapher des Albums zu befeuern, während die elektrische Gitarre trotz allem für mich die Position des Individuums übernimmt, das sich tapfer den Verwerfungen seiner Zeit stellt. Genau das macht die Musik aus meiner Sicht so stimmig.

Schön finde ich das Statement der Band, keine absolute Wahrheit verbreiten zu wollen, wenn man die Presse-Info denn so verstehen mag. Ihre eigentümlichen Klangschöpfungen entführen uns in eine sehr eigene Welt, aber sie lassen uns den Freiraum zu assoziieren und eigene Schlussfolgerungen zu finden, denn wenn wir nach stilistischen Rettungsankern suchen, werden wir in einem undefinierten Raum verloren gehen. Wenn man jedoch den Spagat zwischen Alternative, Progressive und Mathrock annimmt, wird man ein ganz klein wenig auf einen Pfad der Erleuchtung geschickt und sehr schnell wird einem bewusst, dass auch diese Musik fernab gängiger Klischees sehr wohl harmonische Bedürfnisse befriedigen kann. Und das ist die größte Stärke dieses starken Debut-Albums.


Line-up Asthma Choir:

Torsten Lang (vocals, guitar, synthesizer)
Rafael Espinoza (bass, synthesizer)
Hans Otto (drums – #1,2,3,4)
Broiler (drums – #6, percussion – #2)
Larissa Blau (choir vocals – #1,2,4)
Dino Joubert (choir vocals – #1,2,4, choir arrangement – #1)

Tracklist "Spent My Life In Sugar Town":

  1. Ach Weh
  2. Dive In Together, Rinse All Over
  3. Time Takes The Time Time Take
  4. Knife Teaser
  5. Make Instances Real
  6. Tragic Air

Gesamtspielzeit: 34:51, Erscheinungsjahr: 2022

Über den Autor

Paul Pasternak

Hauptgenres: Psychedelic Rock, Stoner Rock, Blues Rock, Jam Rock, Progressive Rock, Classic Rock, Fusion

Über mich

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