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Fish / Weltschmerz – CD-Review

Fish - Weltschmerz

Dies ist das finale Album eines großen Mannes – eines großen Mannes, der am Stock geht, wie dieser Typ im Song "Man With A Stick"? Diesen Song hatte Fish bei der Tour durch Deutschland im Herbst 2018 schon live präsentiert. Der 1,90-Meter-Mann schauspielerte dabei auf der Bühne, stützte sich auf einen Stock und lieferte mit dieser hypnotischen Nummer mit ihrem unterkühlt-stoischen Drive einen Vorgeschmack auf dieses Album. Es sollte und musste ein Doppelalbum werden, weil er so viel Material hatte, und seiner großen Karriere dennoch nur noch ein einziges Werk beifügen wollte: "Weltschmerz". Und ja, Fish ging gewissermaßen auch in Wirklichkeit nicht selten 'am Stock'. Fünf Jahre lang hat er am Album gearbeitet; und alles begann im Jahr 2015, als er Probleme mit Schulter und Rücken hatte und sich auch einer Operation unterziehen musste und für sich entschied: Noch ein Album, eine Tournee … denn mit 65 will ich mir diese Strapazen nicht mehr antun. Doch noch mehr Ereignisse prägten über die vergangenen Jahren die Entstehung von "Weltschmerz": Der Tod des Vaters und zwei Blutvergiftungen; einmal stand es dem Vernehmen nach sogar kritisch um Fish.

Mehr als je zuvor bestimmen Nachdenklichkeit, mentale Erschöpfung und Melancholie Fishs Songwriting. Die Themen seiner finalen Kompositionen sind sehr finster … und sehr menschlich: der Patient, der auf dem Operationstisch sein Schicksal aus der eigenen Hand geben muss ("The Grace Of God"), das Zerbrechen aneinander in einer Liebesbeziehung, in der beide nicht mit- und nicht ohne einander können ("Walking On Eggshells"), das brutale Scheitern am überfordernden Alltag ("Little Man What Now"?), das ernüchternde Ende der einst so tollen Feier, womit auch das gemeint ist, was die Menschheit der Erde und sich selbst antut ("This Party’s Over") und die zum Weinen traurig-schöne Ode an das Erinnern namens "Garden Of Remembrance". In zauberhaft-malerischen Bildern wird schmerzhaft (mit-)fühlbar, wie einem alten Mann die Erinnerungen ans Leben entschwinden, seine längst nicht mehr lebende Partnerin ihn aber immer noch wie ein Geist von früher und heute umschwebt ("Garden Of Remembrance"):

»Down rabbit holes, a darkened maze, a place to hide and be alone
Where thoughts land like snowflakes in the palm of his hand
Swift melting moments, his tears a surprise
He tries to remember just what made him cry
With the beautiful stranger who was holding his hand«

Rein akustisch gehalten, wehmütig und fragil erinnert "Garden Of Remembrance" ein wenig an Fishs traumhafte Ballade "A Gentleman’s Excuse Me" – doch hier beschreiben gut sechs Minuten praktisch nur eine einzige Empfindung, völlig zeitlos. Dem entgegen stehen die beiden mit Abstand längsten Stücke der Doppel-CD, die komplette Lebenslinien zeichnen. "Rose Of Damascus" schildert das Schicksal einer syrischen Christin, deren Lebensträume auf einem Flüchtlingsboot enden. So dramatisch die Thematik des Songs, so episch entwickelt er sich auch – von geheimnisvoll-effektumwobenen Akustikgitarren über dramatische Orchesterinstrumentation bis hin zu verklärten Sprechparts. Und zu keiner Sekunde wirkt das Ganze 'gewollt'. Kein Theater und kein Musical; packend, nicht pathetisch. "Waverley Steps (The End Of The Line)" ist die zweite große Lebensgeschichte auf "Weltschmerz". Fish hatte vom Schicksal eines schwer traumatisierten Ex-Soldaten gelesen, der als Bettler an der Waverley Station in Edinburgh eines Nachts erfror. Ob er tatsächlich etwas über das konkrete Leben dieses Mannes in Erfahrung gebracht hat, oder ihm einfach eine Lebensgeschichte schenkt, ist zweitrangig – die Geschichte ist da, und sie ist unglaublich mitreißend, mit traurigen Bildern, aber auch kraftvollen Rückblicken auf ein Leben voll großer Träume. Wieder wird mit opulenter Instrumentierung gearbeitet zwischen Orchester und Big Band; und mit einem superben Gitarrensolo, das, nachdem Minuten vor Ende des Stücks die letzten Worte gesungen sind, die Dramatik und Traurigkeit des ganzes Songs nochmal zusammenzufassen scheint (übrigens gespielt von Arena-Gitarrist John Mitchell). »Very dark but with pearls of beauty«, beschreibt Fish diesen Song selbst – schöner kann man es kaum ausdrücken.

Düster mit Perlen von Schönheit – so klingt auch das gesamte Album. Ist beispielsweise "Little Man What Now?" eine lange, intensive Studie von Beklemmung und Angst inklusive eines fesselnden Crescendo-Höhepunkts, so existieren auch relaxte bis positiv klingende Kontrapunkte, wenn Fishs Ich-Erzähler sich im "C Song (The Trondheim Waltz)" trotzigen Mut zuspricht oder das teils ironisch angelegte "This Party’s Over" beinahe zu einem schottischen Scheunenfest passen würde. Nein, "Weltschmerz" ist kein Runterzieher. Bei aller Ernsthaftigkeit und Nachdenklichkeit, die Fishs Songwriting prägt – das würde auch nicht zu seinem Humor passen. So sind die Songs auf "Weltschmerz" auch stets geprägt von überwältigend einschneidenden, aber auch detailliert winzigen, fast subtilen Stimmungswechseln. Das kann auch schon mal ein einziger Akkord sein, der einem optimistischen Vibe von einer Sekunde auf die nächste eine betörenden Spannung beimischt, wie im verhältnismäßig sehr kompakten und geradeaus gestrickten Titeltrack, der ganz am Ende der zweiten CD platziert wurde. Was für ein genialer Name für diesen Song und das komplette Album; "Weltschmerz"!

Es ist ein Album, das groß und aufwändig produziert wurde, mit Streichquartett und Synthesizern, Marimba und Akkordeon und was es nicht alles braucht, um diesen emotionalen Kompositionen die feinsten akustischen Pinselstriche zu verleihen. Besonders herauszuheben ist das Saxofon – ob es nun punktuell kraftvolle Akzente setzt, oder in "Little Man What Now?" neben Fishs Gesang fast als weitere eigenständige Stimme die Misere des 'kleinen Mannes' fast elegisch kommentiert. Und die weiblichen Backing Vocals sind ebenfalls ganz große Klasse – wohl dosiert eingesetzt, manchmal nur als ein flüsterndes Echo des Lead-Gesangs, wie in diesem herzerweichenden Highlight "Garden Of Remembrance". Was das Erschaffen von Atmosphären, das Begreiflichmachen von Emotionen angeht, ist "Weltschmerz" der Höhepunkt von Fishs Schaffen – perfekt passend zum großen 'Finale' noch ein Stück zeitloser im Klang als das vorhergegangene Album, das schon zeitloser war als jenes davor. Apropos zeitlos – für "Weltschmerz" braucht man Zeit. Eingängige Einzelstücke sind eher die Beilage des großen Ganzen; und der Opener und manch andere Nummer rocken nicht gleich los – bleiben aber auch selten durchgängig zurückhaltend, sondern entfalten große Energien.

Und wie autobiografisch ist nun dieses finale Album dieses großen Mannes, der zuweilen 'am Stock ging"? »Ich hab mit all diesen Songs zu tun, und habe das erst richtig bemerkt, als ich sie im Studio gesungen habe. Da steckt viel Selbstprüfung drin; und ich habe bei der Entstehung dieses Albums viel über mich selbst gelernt« hat Fish im Interview mit den Edinburgh Evening News erzählt. »Wie sich das Album so entwickelt hat und ich zurückgeblickt habe, während ich geschrieben habe, hab ich gemerkt, wie viel von mir selbst ich da reingesteckt habe. Obwohl alle Songs von anderen Leuten handeln, finden sich viele meiner eigenen Erfahrungen darin; und das zu realisieren, war ganz schön gruselig.«

Ob "Weltschmerz" wirklich seine letzte Aufnahme bleiben wird? So viele Künstler haben sich schon voreilig verabschiedet und das später revidiert. Und auch 'Alterswerke' können etwas Besonderes sein. So klingt es aber sicherlich nicht, wie ein Alterswerk – ob es nun das letzte bleibt oder nicht. Bei aller Begeisterung bleibt es schier unmöglich, Fishs mutmaßlich finales Werk mit Worten zu beschreiben. Weltschmerzmusik.


Line-up Fish:

Fish (vocals)
Steve Vantsis (bass, fretless bass guitar, drum loops & programming, samples, synths, keyboards, electric guitar – #1-5,7-10, marimba)
Robin Boult (electric and acoustic guitars – #1-4,7-10, acoustic and slide guitar – #5, nylon guitar – #6)
John Mitchell (electric guitars – #1,3-5,10, acoustic guitar – #4,5, solos – #5,9)
Liam Holmes (piano – #1,5,6, Hammond organ – #3-5, Fender Rhodes – #7, synths – #6)
Foss Paterson (synth solo – #2, piano, tine piano – #8, keyboards – #9)
Craig Blundell (drums – #1,3-5,7,10)
Dave Stewart (drums – #2,8,9)
Liam Bradley (percussion – #2,7-9)
Doris Brendel (backing vocals)
David Jackson (saxophone – #4,8, whistles – #4)
Martin Green (accordion – #7)
Lu Edmonds (oud – #5)
Tony Helliwell (spoken word – #1)
Liam Golecki, Simone Dick, Derek Dick Steve Vantsis (handclaps – #7)
Alina-Lin Merx-Jong (1. violin – #8,9)
Lara Meuleman (2. violin – #8,9)
Linda Custers (viola – #8,9)
Tanja Derwahl (cello – #8,9)
Egbert Derix (string arrangement – #8,9)
Mikey Owers (trombine, trumpets & flugelhorn – #5,7,9)
Dave Milligan (brass arrangement)
Kana Kawashima, Aisling O’Dea, Robert McFall, Rachel Smith (violins – #1,3,5)
Brian Schiele, Felix Tanner (violas – #1,3,5)
Su-a Lee, Harriet Davidson (cellos – #1,3,5)
Ian Stephens (string arrangement – #1,3,5)

Tracklist "Weltschmerz":

CD 1:

  1. The Grace Of God (8:19)
  2. Man With A Stick (6:27)
  3. Walking On Eggshells (7:18)
  4. This Party’s Over (4:22)
  5. Rose Of Damascus (15:45)

CD 2:

  1. Garden Of Remembrance (6:07)
  2. C Song (The Trondheim Waltz) (4:41)
  3. Little Man What Now? (10:54)
  4. Waverley Steps (End Of The Line) (13:45)
  5. Weltschmerz (6:51)

Gesamtspielzeit: 42:11 (CD 1), 42:17 (CD 2), Erscheinungsjahr: 2020

Über den Autor

Boris Theobald

Prog Metal, Melodic Rock, Klingonische Oper
Meine Beiträge im RockTimes-Archiv

Mail: boris(at)rocktimes.de

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