«

»

Colour Haze / We Are – LP-Review

Colour Haze / We Are

Im Grunde freue ich mich immer ganz besonders, wenn ich eine Platte aus dem Fundus einer Band besprechen darf, mit der mich viele geile persönliche Erinnerungen verbinden. Wenn es obendrein eine Band ist, zu der eine ganze Szene fast mit Ehrfurcht aufschaut, dann kommen Glücksgefühle auf. Colour Haze waren und sind das kreative Zentrum im europäischen Stoner und Psychedelic Rock. Nie werde ich das "Up In Smoke"-Konzert von Erfurt im Februar 2011 vergessen, als Sander Hagmans von Sungrazer neben der Bühne tanzte und vor seinen Idolen auf die Knie ging.

Wie es sich für Trendsetter gehört, die von Dutzenden, vielleicht Hunderten Bands imitiert und nachempfunden werden, haben sich die drei Münchner über die vier Jahre seit "In Her Garden" erheblich weiterentwickelt. Nicht in ihrem Potential, das war und ist ein Stück weit einzigartig – nein, sie gehen deutlich neue Wege und erfinden ihren Sound und ihre Kompositionsstrukturen immer wieder neu. Diesmal empfinde ich die Schritte in fruchtbare, neue Äcker besonders intensiv. Das beginnt schon damit, dass die Band quasi zum Quartett erwachsen ist, den Jan Faszbender fungiert auf "We Are" als durchgängig beschäftigter Keyboarder und erzeugt mit seiner erdigen Spielweise und seinem stimmigen Ensemble an klassischen Tasteninstrumenten immer wieder auch einen Touch Siebziger-Jahre-Flair. Ab und an kommt fast ein wenig von der Stimmung à la "No Quarter" auf – ist halt immer noch mein Lieblings-Zeppelin.

Zu Beginn locken uns die listigen Bayern auf eine gänzlich falsche Fährte. Die krachenden Auftakt-Riffs im Titelsong "We Are" scheinen eine nahtlose Hommage an Klassiker wie "Get It On" zu werden und man wähnt sich wohlig erfreut in sicheren, bekannten Gewässern. Typische Phrasierung von Stefan, gewohnt krachend dröhnende Bässe von Philipp und Mannis virtuos wildes Getrommel, so sind sie zu Legenden geworden. Nur ganz tief auf dem Grund der treibenden Nummer keimt eine kleine Gegenströmung auf. Ist es Einbildung, dass Stefans Stimme eine Nuance sanfter wirkt als früher. Diese Tendenz wird sich bald bestätigen, wenn das entspannt mäandernde "The Real" einen lässig lasziven Groove entwickelt, so als ob die Familienväter in der wachsenden Weisheit ihres Lebens dem Moment eine Chance geben, sich entwickeln zu dürfen. Aus den jungen Wilden sind endgültig reife Männer geworden, die ihre großartigen Fähigkeiten nicht exhibitionistisch zur Schau stellen wollen, sondern die eine Idee haben und sich dem Konzept teamorientiert unterordnen. Klingt ein bisschen nach Jürgen Klopp, oder? So sind es vielmehr Stimmungsbilder als dramatisches Sologehabe, was den Geist dieses famosen Albums ausmacht. Dass die Produktion gerade an solchen Stellen mitunter ein wenig massentauglicher klingt, ist somit keine Schwäche, sondern eine Einladung, neue Pfade mit der Band zu begehen.

Und wenn mit "Life" zum einen die erste Seite der LP-Version abgeschlossen wird und sich die Trilogie der ersten Songs wie ein Puzzle zu einem sinnvollen Ganzen ergänzt (jetzt heißt es nämlich »we are the real life«), dann sehe ich nicht nur meine These um den Reifeprozess der Band bestätigt, es jagt mir auch noch einen Schauer tiefen Glücks auf den Nacken. Diese Harmonien sind ein Loblied für die Freunde von Been Obscene, denen Stefan immer sehr verbunden war. Der Song hat ein wahnsinniges Crescendo, beginnt er doch so zerbrechlich und zart. So sanft Klang Stefans Stimme noch nie zuvor. Eine leichte Melancholie weicht dann aber einem Steigerungslauf, die Daumenschrauben schließen sich ganz allmählich, der Druck im Kessel steigt merklich. Die Riffs schlagen deutlicher ein und wunderbar organisch erwachsen Stefans Soli von unsagbarer Schönheit zu sich immer mehr verwirbelnden Strängen, die sich in astralen Wolken vermischen und auflösen. Soli, weil es jetzt mehrere Gitarrenlinien sind, die den Sphären zustreben, ein klassisches Stilmittel, dem die Band auf "She Said" so eindrucksvoll gefolgt war. Ist das geil, es reißt mich aus dem Sessel.

Die B-Seite des Vinyls macht auf mit einer dem Flamenco nicht so fernen, herrlichen akustischen Gitarre. Dass Stefan wunderbar mit den unverstärkten Saiten umgehen kann, hat er live unzählige male bewiesen, oft auch auf der Sitar. Trotzdem nimmt der verhältnismäßig kurze Song mit eingängigen Gesängen und Harmonien eine Sonderstellung im klassischen Songwriting von Colour Haze ein, verschmelzen hier doch akustische Klänge mit anheimelnden Tastenklängen und Stefans leicht mystischem Gesang zu einem Kosmos ohne jede Aggressivität und Druck. Eine ziemlich neue Attitude in der inzwischen 26 jährigen Bandgeschichte.

"I’m With You" konfrontiert uns wieder mit einer geheimnisvoll ausschwärmenden, typischen Saitenarbeit von Stefan und einem neuerlichen feinen Spannungsaufbau, der einen gefangen nimmt. Völlig losgelöst und relaxt starten wir in das Abenteuer und lassen uns ganz allmählich mitziehen.  Hin und wieder fühlt man sich erinnert an das überwältigende "Transformation", das sich quasi aus einem Urschlamm minimalistischer Klänge zu einem Monster des Gitarrenrocks emporschwang. Diese Höhen wollen wir hier und jetzt aber nicht erklimmen, einige harte Riffs als Kulminationspunkt reichen gänzlich aus, doch der zitierte Über-Song aus "She Said" wird uns im Geiste in der nächsten Nummer partiell noch einmal wieder begegnen.

"Be With Me" ist nichts anderes als die Essenz aus der Botschaft zum Vorgänger-Titel "I’m With You" und zusammen ganz sicher als ein Loblied auf Zweisamkeit und Partnerschaft, auf Liebe und Großzügigkeit. Und auf Nachhaltigkeit. Wie hieß es doch dort: »Where will you be when you’re gone? How will the things you’ve done carry on? What will you leave when you’re gone? Only works of love forever shine«. Was für ein unglaublich schöner, nachdenklicher Text. Ein Thema, was mich aufgrund aktueller persönlicher Erfahrungen unglaublich berührt. Meine Mutter hat den Krieg ertragen müssen, als kleines Mädchen den Aufbau mit gestaltet und ihre Gesundheit irreparabel geschädigt. Sie hatte Geschwister, die sie dominierten, einen Mann, der nicht fähig war, ihre Werte wahrhaft zu erkennen. Doch sie hat niemals aufgegeben und der Welt – vor allem mir – ihre Liebe geschenkt. Stefans Lyrics schenken mir Trost und die Motivation, Ihr Andenken und  Ihren Geist weiter leben zu lassen und ihr Andenken zu zelebrieren, wenn sie nicht mehr da ist.
Ich bitte diesen höchst persönlichen Kommentar zu verzeihen, an dieser Stelle gehörte es einfach dahin.

"Be With me" entwickelt sich wie ein klassischer, allerdings von solistischen Ausritten befreiter Jam, bei dem zunächst das Keyboard mit leicht östlich angehauchten Harmonien eine klare Hookline verfolgt, während der Groove lässig swingt und verträumte Bassläufe vor sich hin sinnieren. Wenn Stefan das Kommando übernimmt, entwickelt sich ein wenig mehr Druck, den die Ventile des Songs jedoch nachhaltig absorbieren.
In der letzten Nummer, "Freude III", einer transzendentalen Meditation phrasiert Stefan wohl jazziger als jemals zuvor. Einem Virtuosen wie ihm fällt das nicht schwer und es gibt der Nummer, die wie eine schöne Improvisation in ein fast zu Tränen rührendes, harmonisches Crescendo hinein führt, einen wunderbar leichten und luftigen Touch, etwas, was man auch schon auf dem Vorgänger-Album "In Her Garden" feststellen konnte.

Zum Abschluss noch ein paar wehmütige Rückblicke aus den Tagen, als sich unsere Wege regelmäßig kreuzten:
Colour Haze waren Bestandteil meines ersten Musikberichts überhaupt (Desertfest 2012), damals noch für eine andere Webseite, sie waren Headliner beim einzigen Festival, wo ich zur Staff des Veranstalters zählte und nach Mitternacht neben Stefan am Merch stand. Er mit seinen Elektrohaschplatten und ich mit unserem Freak Valley-Zeug. Später konnte ich, abgesehen von einem Kanadier, die weltweit erste Review zum legendären Album "She Said" ins world wide web jagen und Stefan schenkte mir Tage später ein hinreißendes Interview – absolute Highlights eines Hobby-Schreiberlings.

Nicht zu vergessen das legendäre XXL-Konzert von Salzburg, wo ich mir an meinem fünfzigsten Geburtstag vor Ort ein Ticket kaufte, nur um dann später sowohl von Colour Haze als auch von Been Obscene auf die Gästeliste gesetzt zu werden. Der Abend war eben dreifach gut und endete morgens um fünf mit einer zünftigen Kaspressknödelsuppe in Bad Reichenhall. Erinnerungen zuhauf an eine wunderschöne und bewegte Zeit, die ich niemals vergessen werde.

Colour Haze ist und bleibt einzigartig. Weil sie ein klares Profil haben und doch jederzeit bereit sind, neue Felder zu beackern. Die Sounds von "We Are" sind innovativ und klassisch zugleich. Und sie sind eine Reflexion auf das Leben, das auch nicht immer nach Plan verläuft. Wer die Geschichte um Stefans Erfahrungen mit seinem sündhaft teuren Studio in München und der daraus resultierenden 'Flucht' in die bayrische Peripherie kennt, weiß, dass auch ein absoluter Stern am deutschen Underground-Rockhimmel manchmal an seine Grenzen gehen muss, um dauerhaft zu scheinen. Aber es sind eben diese Erfahrungen, die uns reifen lassen und genau das scheint der Stoff zu sein, der dieses Album zu dem macht, was es ist: einzigartig!
Bleibt uns erhalten und macht weiter so …


Line-up Colour Haze:

Stefan Koglek (guitar, vocals)
Philipp Rasthofer (bass)
Manfred Merwald (drums)

additional:
Jan Faszbender (keyboards)
Mathew Bethancourt (backing vocals #5)
Julia Rutigliano backing vocals #1, 2, 6)
Florian Riedl (flute #6)

Tracklist "We Are":

  1. We Are
  2. The Real
  3. Life
  4. Material Drive
  5. I’m With You
  6. Be With Me
  7. Freude III

Gesamtspielzeit: 45:49, Erscheinungsjahr: 2020

Über den Autor

Michael Breuer

Hauptgenres: Gov´t Mule bzw. Jam Rock, Stoner und Psychedelic, manchmal Prog, gerne Blues oder Fusion

Beiträge im RockTimes-Archiv

Über mich

News

1 Kommentar

  1. Johannes

    Vielen Dank für diese geniale Rezension!Werde mich mit der Band daraufhin intensiver beschäftigen.Der Persönliche Kommentar hat mich sehr berührt und ich finde,dass die Entschuldigung nicht hätte sein müssen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Du kannst folgende HTML-Tags benutzen: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>