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Kirkbinsinek / Toprak Ana – LP-Review

Kirkbinsinek / Toprak Ana

Die Mutter Erde, in den Andenstaaten Pacha Mama genannt, ist in vielen Kulturen verwurzelt und wird entsprechend verehrt. Zahlreiche Rituale zu ihrer Ehre werden dort praktiziert. Auf türkisch heißt Mutter Erde 'Toprak Ana' und Kirkbinsinek, die Formation aus Istanbul, widmet ihr gar ein ganzes Album. Ich nehme es vorweg, dieses Album wird in meinem Jahresrückblick einen Ehrenplatz einnehmen, auch wenn es bereits in den letzten Tagen des vergangenen Jahres das Licht der Welt erblickt hat.

Fantastische psychedelische Musik mit progressiven Anwandlungen, die immer wieder auch mal das weite Feld des Krautrock streifen, ein herrlich authentischer ethnischer Einfluss durch den ausdrucksstarken Gesang von Alper Antmen, verschmelzen zu einem großartigen Kosmos, der seltsamerweise auch diejenigen erreichen wird, denen orientalische Gesänge bislang fremd geblieben sind. Nein, Kirkbinsinek und ihre Version des Anadolu Rock passen in die hiesige psychedelische Szene wie die berühmte Faust aufs Auge, bedienen sich doch auch hierzulande emanzipierte und visionäre Musiker sehr gerne östlicher Themen und Rhythmen.

Passend zum Titel wurde das Album in einem besonders erdigen Sound aufgenommen, die analogen Klänge auf der LP verströmen tiefe Verbundenheit zu organischen Tönen, glasklar kontrastiert und besonders kernig auf den diversen Saiten unseres Vergnügens. Denn die haben es in sich.

Bereits die erste Nummer, "Pus Almış Dağı" (Dunstberg), haut mich aus den Socken. Ein sanft mäandernder Soundteppich ruht förmlich in sich selbst, wenn E-Bow und Gitarre erste Knospen aus der Mutter Erde treiben. Eine transzendentale Reise entschleunigt den Zuhörer und nimmt ihn mit, wenn der erste Gesang fast hymnisch und schamanenhaft über die weiten Steppen des anatolischen Hochlands im Wind zu treiben scheint. Doch dann sind wir mitten drin im Saitenzauber, der sich alsbald in mystisch strömenden, aber klar und deutlich pointierten, kraftvollen Licks über einer sehr stimmungsvoll untermalenden Gitarre entlädt. Der zweite Teil dieses Solos führt auf eine Fährte, die mich freudig erschauern lässt. Da scheint jemand mit den Phrasierungen eines Robert Fripp vertraut zu sein.

In "Kuş" (Vogel) geht gleich zu Beginn die instrumentale Post ab. Jetzt entwickelt sich purer Psych. Effektbehaftete Klänge schwirren gurgelnd und murmelnd aus und schwingen sich empor in majestätische Höhen. Diese Gitarre hat eine geradezu göttliche Kraft und Intensität, die mich allem Irdischen entfliehen lässt. Und mittendrin vokale Lines, die hierzulande in ihrer Lautmalerei bei vielen Mittelalterbands populär sein würden. Was vor allem auch für den nächsten Song gilt: "Dağlara Yol Var", zu deutsch »Es gibt eine Straße in die Berge« zieht zunächst auf psychedelischen Pfaden davon, kulminiert aber höchst progressiv in abermals gewaltigen Gitarrenklängen. Meine Herren, was für eine geile Kombi zwischen erdverbundenem Rock und losgelöster Improvisation. Dass der hier zitierte Berg aber nicht nur Ausdruck der Naturverbundenheit ist, sondern auch als Metapher zeitgeschichtlich nahe zurückliegende Ereignisse heraufbeschwört, werden wir bald deutlicher verstehen.

Sprach ich eingangs von Krautrock, so bietet uns "Maden" (die Mine) Sounds und Kompositionsstrukturen, die ein wenig an Eloys Album "Floating" erinnern, übrigens nicht zum letzten mal. In einem ähnlichen Soundgeflecht begeben wir uns auf die B-Seite des Albums, wo die Klänge düsterer werden und dem Titel des Songs "Devrim" Ausdruck verleihen. Denn Devrim heißt Revolution. Etwas, wovon man in der Türkei besser nicht laut spricht und so ist der Text, wenn ich den Translator richtig verstanden habe, eine sehr vorsichtige und poetische Andeutung dessen, was sich in jüngerer Vergangenheit im großen Land an der Grenze zwischen Morgen- und Abendland ereignet hat: »Sie berührten die Spitze des Berges, so weit entfernt wie die Sonne. Doch in die Fallen am Wegesrand kann man fallen…«, so beginnt der Titel sehr frei übersetzt und jetzt wird deutlich, dass der Berg und sicher auch die Mutter Erde hier sowohl wörtlich als auch übertragen wahrgenommen werden dürfen. Ich folge den Jungs von Kirkbinsinek gerne auf beiden Pfaden und bekenne mich zu ihren Thesen. Angesichts des schwerwiegenden Themas wechseln hier beide Gitarren zwischen Solo und Hintergrund und verweben sich so in Bruderschaft und Beistand. Ein berührendes Bildnis.

Schade, dass man die Lyrik und Poetik fremder Sprachen nicht in adäquate Übersetzungen einbringen kann, das Loblied auf die Mutter Erde hat einen sehr schönen rhythmischen Reim, auch ohne Kenntnis der Sprache. Sie wird getragen von der leichten Melancholie einer nachdenklich progressiven Gitarre, die sich zum Ende allerdings in einem befreienden Solo euphorisch abbaut.

Ein zarter Bass leitet über in klare Strukturen und Klanggebilde, die ein wunderschönes Gebäude errichten. "Dalyan" heißt das Lied, wohl nach der Stadt am Meer zwischen Izmir und Antalya. Erneut haben die Vocals eine ausdrückliche Nähe zu nordisch-mittelalterlichen Gesängen. Referenzielle und finale Hooklines schwingen sich formschön und erhaben in die Ferne, dort wo die Wellen das Ufer treffen. So oder so ähnlich heißt es auch im Text.

Die letzte Zeile des Textes im abschließenden und längsten Stück lautet »duvar tek yikilmiyor«, etwa, die Wand fällt nicht auseinander – womöglich eine düstere Version für all diejenigen, die die Spitze des Berges sehen, aber nicht berühren durften, um in der Bildsprache des Albums zu bleiben. Musikalisch bietet "Duvar" ein psychedelisches Feuerwerk, bei dem nur zu Beginn eine kurze Textpassage die schlussendliche Erkenntnis des inhaltlichen roten Fadens verkündet. Doch dann ist der Ring frei für psychedelische Abenteuer und freie Improvisationen, die an die wilden Ausflüge von Vibravoid und die herrlichen, fächerartigen Gitarreneruptionen aus der Anfangszeit von Guru Guru erinnern. Damals, als Ax Genrich noch den Elektrolurch aus der Lüsterklemme neben dem Nebenzähler rausließ. Selbst UFOs Spacerock erscheint uns plötzlich am Horizont und verliert sich sogleich in einer dramatischen Auseinandersetzung zwischen Schlagzeug und einer experimentellen Gitarre. Wenn der Bass zurückkehrt ins Gefüge, ist das Werk vollbracht.

»We produced some of the tracks in the album with the happiness of being able to exist in nature and some to critizize the oppression imposed on all of us. We hope that everytime you listen they stir up your emotions. For a world in peace …«

Gänsehaut und eine verschämte Träne eines bewegten Rezensenten, der genauso empfindet wie ihr. Danke, meine Brüder im Geiste, dass Ihr der Welt eine solche Botschaft zu senden imstande seit. Die mitreißende Musik lässt es uns fühlen, selbst wenn wir die Texte nicht verstehen.
"Toprak Ana" ist ein Meisterwerk psychedelischer Musik mit authentisch ethnischen Wurzeln und birgt obendrein ein zutiefst humanistisches Statement.

Mein erster Anwärter auf das Album des Jahres.


Line-up Kirkbinsinek:

Alper Antmen (guitar, saz, vocals)
Volkan İncüvez (guitar, e-bow)
Özgür Devrim Akçay (drums, cymbals, backing vocals)
Tolga Öztürk (bass)

Tracklist "Toprak Ana":

  1. Pus Almış Dağı
  2. Kuş
  3. Dağlara Yol Var
  4. Maden
  5. Devrim
  6. Toprak Ana
  7. Dalyan
  8. Duvar

Gesamtspielzeit: 46:46, Erscheinungsjahr: 2019

Über den Autor

Michael Breuer

Hauptgenres: Gov´t Mule bzw. Jam Rock, Stoner und Psychedelic, manchmal Prog, gerne Blues oder Fusion

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