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Lemurian Folk Songs / Ima – LP-Review

Lemurian Folk Songs / Ima

Auf den kosmischen Pfaden zwischen Zeit und Raum reist momentan wohl kaum eine Band derart zielsicher durch eine farbenfrohe Galaxis psychedelischer Klänge wie die ungarische Formation Lemurian Folk Songs aus Páty vor den Toren von Budapest. Klar, retroorientierte Bands gibt es zuhauf, aber glaubwürdiger als auf dem aktuellen Album "Ima" kann man eine Verbindung zwischen legendären Urvätern und -müttern unserer Musik mit den zeitgenössischen Sprösslingen wirklich nicht in den Orbit bringen. Nein, Zeit spielt keine Rolle im Konzept der Lemurian Folk Songs, deren Existenz mir wieder einmal nur durch einen alten Kollegen einer befreundeten Webseite bekannt geworden ist.

Lemuria, der mystische Kontinent, vielleicht einst eine riesige Landmasse zwischen Madagaskar und Indien oder aber irgendwo zwischen Australien und Amerika, wie es in legendären Science Fiction-Romanen behauptet wird, wahrscheinlich eher eine fantastische Erfindung menschlicher Sehnsüchte. Eine Band, die ihren Namen aus einer solche Basis entwickelt und nebenbei auf ihrer Webseite eine These von Hermes Trismegistos, in der Mythologie eine Verschmelzung des griechischen Gottes Hermes mit dem ägyptischen Gott Thot, zur Beschreibung ihres Konzepts zitiert, die hat uns ganz sicher was zu sagen. Widmen wir uns also den Folksongs einer geheimnisvollen Welt, die die Phantasie der Menschen immer schon angeregt hat und die uns nun mit erstaunlichen Klängen in ein schillerndes Universum entführen möchte.

Eine von Hall getragene weibliche Stimme eröffnet leicht klerikal (aber gleichzeitig massiv an Eloys Auftakt zu "Colours" erinnernd) und räumt sogleich den Raum für eine herrlich psychedelische Gitarre, die sowohl bei Colour Haze als auch The Machine (etwa in der "Solar Corona"-Zeit) einst als typisch erachtet worden wäre. Zusammen mit dem einsetzenden, hypnotisch gleichförmigen Gesang hingegen verlieren wir sogleich jegliche zeitliche Zuordnung, denn plötzlich schweben tief eingegrabene Assoziationen von Jefferson Airplane oder gar The Doors aus den Hirnwindungen hinauf in den Olymp wirklich geiler psychedelischer Musik. "Highself Roadhouse" erzählt die Geschichte vom Raumschiff, das in lemurischen Gefilden landet, aber stil- und kontextgerecht nicht kommt um zu erobern, sondern in Freundschaft: »Smoke some please, drink a beer, don’t worry, these are traveller’s things.«
Solche Außerirdischen lass ich mir gefallen. Und wenn nach verschärften Riffs der Wah-Wah-Turbo gezündet wird, sind wir plötzlich mitten drin im Raumschiff. Die tranceartige Droge des hypnotischen Gesangs absorbiert allmählich das Kleinhirn und die nun wieder sanft kreiselnde Gitarre scheint sich in bunten Rauchschwaden aufzulösen. Was für ein geiler Auftakt.

Mit einem beschwingten Boogie-Rhythmus kracht "Füst" abwechselnd hin und her pendelnd zwischen Krisztinas eigentümlich entrückenden Gesang und wilden Gitarren Freak-outs, etwas, das mir in dieser Anordnung der prägnanten, aber irgendwie monotonen Stimme und Bences auskeilenden Licks einen Flashback an eine hochgeschätzte ungarische Kombo verschafft. Diese Harmonien klingen ein wenig verwandt mit Omega, den großen Legenden aus gleichen geografischen, aber musikalisch etwas anderen Gefilden. Die erste Hälfte des Songs lebt diesen wilden Flug voll aus, doch ein sehr doomiges Break versucht sich abermals als halluzinogene Droge in unserem Hirn zu platzieren. Inhaltlich gibt es eine ungemein positive Botschaft, die fast schon esoterisch wirkt: »Put the seeds down, let them grow in the sky, then the harvest comes, under the bird’s highest flight .«

Good vibrations from Lemuria und der Rock’n’Roll rollt wie ein geölter Blitz durch die astralen Wolken friedlicher Unendlichkeit. Wer jetzt noch zusätzliche Substanzen braucht, hat die Musik bis hierhin nicht verstanden.

Nun ja, und wenn ich schon Omega zitiert habe, so bietet "Pillanat" gleich eine weitere Parallele, denn dieser Song hat einen ungarischen Text. Die Begründer magyarischer Rockmusik und neben dem Transsylvanischen Phoenix aus Timisoara, Rumänien (beide interessanterweise gegründet im Jahr 1962) sicher auch die Wurzel westlicher, populärer Musik auf dem gesamten Balkan haben ihre Alben oft zuerst in ihrer Heimatsprache produziert, bevor man die Kompositionen mit englischen (und im Falle von Omega auch einmal mit deutschen) Texten ausstattete. Die sensibel mäandernde Gitarre schwebt dezent neben dem hier besonders sanften Gesang, zurückgenommen, melancholisch und in sich verharrend. 'Moment' heißt der Titel übersetzt, und genau das vermittelt er auch: Die Beschreibung eines Moments, undefiniert und nicht greifbar. Einfach hier und jetzt – oder vielleicht nie gewesen. Wie das Land Lemuria? Unweigerlich kommt mir die Plastiktüten-Szene aus "American Beauty" in den Sinn, die hat einen solchen Moment ähnlich schön offenbart.

Aber zum Ende kappen die Lemurian Folk Songs alle Ketten eines Song-orientierten Korsetts und starten mit "Melusina III." in einen krachenden, ekstatischen Jam von wilder Schönheit und ungezügelter Energie. Die erste Melusine – übrigens auch wieder so ein mystisches Wesen, welches der Esoterik von Lemuria zwar inhaltlich nicht verbunden ist, aber gleichwohl die menschliche Phantasie ähnlich beflügelt hat – dröhnte bereits effektvoll auf dem Vorgängeralbum "Maro". Eine simple, aber irgendwie hirnzersetzende Hookline bildet die Basis für eine spacige Meditation auf sechs Saiten, bei der jegliche Bodenhaftung verloren geht. Jetzt befinden wir uns in einem Orbit, in dem auch Earthless gerne kreisen, wo The Machine einst unterwegs war und wo auch ein Dave Schmidt alias Sula Bassana hin und wieder den Weg, Entschuldigung, die Flugkurve kreuzt. Zeit löst sich auf und der Aggregatzustand geht allmählich in Edelgaskonfiguration über. Die Phrasierung wird ein wenig härter, setzt einen letzten Akzent, bevor ein Effektgewitter uns Molekül für Molekül zerlegt und in ein schwarzes Loch absaugt. Mitten hinein und ab dafür.

Meine Herren, ein psychedelisches Erlebnis, wie ich länger keines mehr hatte, Kollege Volker Fröhmer, ich bin über alle Maßen begeistert und danke auf diesem Wege für den geilen Tipp. Wer auf abgefahrene psychedelische Gitarren steht und gerne auch mal eine etwas andere Aufbereitung erleben möchte, der wird mit den Lemurian Folk Songs sehr glücklich werden. Krisztina Benus verleiht dem ganzen einen eigenen, sehr hypnotischen Charme, der gelegentlich an Grace Slick erinnert und so etwas wie den weiblichen Gegenpart von Jim Morrison aus den Sphären der Zeit zu absorbieren scheint. Eine gespenstisch gute, transzendentale Erfahrung.


Line-up Lemurian Folk Songs:

Krisztina Benus (vocals, keyboards)
Bence Ambrus (guitar)
Attila Nemesházi (bass)
Istvám Baumgartner (drums)

Tracklist "Ima":

  1. Highself Roadhouse
  2. Füst
  3. Pillanat
  4. Melusina III.

Gesamtspielzeit: 38:15, Erscheinungsjahr: 2019

Über den Autor

Michael Breuer

Hauptgenres: Gov´t Mule bzw. Jam Rock, Stoner und Psychedelic, manchmal Prog, gerne Blues oder Fusion

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